Auf den ersten Blick fallen dem Betrachter des Bildes die
ungewöhnliche ovale Form der Holzplatte auf, sowie die Kordel, die als
Bildrahmen dient.
Auf dem Bild sieht man ein rechteckiges Feld im unteren Bildraum, das
von braunen Steifen eingegrenzt wird. Dies stellt ein Rohrstuhlgeflecht dar und
wird links geschnitten von einem grauen Strich an dem mehrere senkrechte
aperspektivische Linien liegen. Insgesamt sieht man einen
Stuhl, dessen Sitzfläche aus einem Rohrstuhlgeflecht besteht, wie man ihn bei
Stühlen in einem Café-Haus kennt.
Auf diesem Stuhl scheinen Gegenstände platziert.
Im linken oberen Bereich
lassen sich Flächen erkennen, die gefalteten Papierblättern ähneln, darauf liegt
Zigarette. Über den Blättern befinden sich die Buchstaben „JOU“ in fettgedruckter Druckschrift mit
Serifen. „JOU“ steht hierbei für das
französische „Journal“ und bedeutet Zeitung. Somit sollen die Blätter im
Hintergrund die Zeitung darstellen, die auf dem Stuhl liegt.
Im mittleren Bereich sind
mehrere Gegenstände, die aus geometrischen Formen zusammen gesetzt wurden, erkennbar. Auf dem
Rohrstuhlgeflecht scheint eine Art grauer Gefäß-Fuß zu liegen der einen
Schatten darauf wirft. Geht man weiter nach oben identifiziert man eine Art tiefe Tellerform,
die man aus einer Frontalansicht sieht. Diese beiden Gegenstände mit unterschiedlicher Perspektive sind durch weitere graue Flächen verbunden. Dadurch entsteht ein
Kerzenständer. Über diesem Kerzenständer sind bräunlich-gelbe, zum Teil transparente Formen gemalt,
welche um einen hellen Kreis herum verteilt sind: die auf dem Kerzenständer
befindliche Kerze.
Auf der rechten Seite der
Holzwand ist eine weiße Fläche mit einem großen Dreieck zu sehen, das nach links
hin in einer Art Pentagramm mündet und rechts unten mit einer welligen Linie
verbunden ist. Mit viel Vorstellungskraft und dem durch die Buchstaben angedeuteten Zusammenhang mit Frankreich, kann die Form als Muschelschale identifiziert werden. Anscheinend ist das Pentagramm die
Verbindungsstelle der beiden Schalenhälften. Über dieser Muschel sind nochmals
Formen zu sehen. Die eine sieht aus wie ein Spielzeugrad mit Speichen oder eine
kleine Pizza. Um dieses Rad sind weitere Formen, eine davon ein Rechteck, das
nach rechts „heraussteht“ aus diesen Flächen. Wenn man das Rad mit der Auster
in Verbindung bringt erkennt man eine aufgeschnittene Zitrone und um diese
Zitrone eine Art Zitronenpresse.
Somit sieht man einen
Stuhl, auf dem eine Zeitung mit einer Zigarette, ein Kerzenständer mit einer
Kerze, eine Auster mit einer Zitrone in einer Zitronenpresse liegt.
Nun fragt man sich, wie
man denn auf diese Interpretation des Bildes kommt.
Zum einen liegt das an
dem Maler, Picasso, und zum anderen an dem Stil den er hier angewandt hat.
Pablo Picasso ist heute zwar
berühmt für seinen späteren expressiven Kubismus und davor war er bekannt für seine
eher klassizistisch wirkenden Malerei, auf welchen sich jedoch meist Menschen
oder Tiere befinden. „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“ beinhaltet aber Gegenstände
und liegt zeitlich zwischen den beiden Stilen. Was hat also Picasso dazu
gebracht von einem sehr klassischen Stil zu einem so abstrakten Stil zu
wechseln?
Am Anfang des 20.
Jahrhunderts wurde die Fotografie immer einfacher zu bedienen und immer peerfekter, somit wurde die traditionelle
Malerei mit ihrem Streben nach Realismus und Illusionismus verdrängt. Viele Maler
haben sich daher neue Stilrichtungen ausgesucht, wie Magritte und Duchamp. Sie fragten
sich was die Malerei über das reine Abbilden hinaus noch könne. Es entstand z.B. der
Dada-ismus, der die Sinnlosigkeit der Welt zum Thema hatte und die Kunst
lächerlich machen wollte. Letztendlich hat auch Picasso mit seinem Malerfreund
Georges Braque einen neuen Stil gefunden, den Kubismus.
Der Kubismus versucht wissenschaftliche Erkenntnisse in die Kunst miteinzubeziehen. Durch die Forschung Sigmund Freuds erkannte man, dass
jeder Mensch die Wahrheit und Wirklichkeit individuell wegen seiner Erlebnisse,
Herkunft, Religion, usw. wahrnimmt.
Picasso versucht daher in
diesem Bild die Wirklichkeit vereinfacht mit geometrischen Formen (siehe: Muschelschale) darzustellen. Dazu verwendet er den analytischen Kubismus, der im
Gegensatz zum synthetischen Kubismus die Gegenstände in Einzelteile zerlegt und
neu anordnet. Durch diesen Stil werden die Dinge klarer, da sie auf ihre
einfachste Form reduziert werden, aber auch komplizierter durch die neue
Anordnung.
Das tückische an diesem
Bild ist, dass die Grundformen nicht nur einen neuen Platz haben, sondern auch noch aus verschiedenen Perspektiven
dargestellt werden. Gegenstände, die normalerweise sukzessiv, also
hintereinander, abgebildet werden, sind in diesem Bild SIMULTAN (gleichzeitig) aus den verschiedenen Betrachtungsweisen
abgebildet (z.B.: Zeitung geht hinter der Kerze weiter). Man sah sich die
Gegenstände von beispielsweise vorne, oben, links und rechts an und malte
einzelne Teile aus dieser Sichtweise und setzte sie neu zusammen. Bei „Stillleben
mit Rohrstuhlgeflecht“ hat Picasso versucht nur den realen Sehprozess darzustellen.
Unsere Wahrnehmung
besteht nicht, wie eine Fotografie, aus nur einem Bild, sondern aus unzähligen. Das kommt zum einen von der inneren Dynamik des
Menschen, der ständig in Bewegung ist, zum anderen davon, dass wir uns die
Realität „zusammenzimmern“, da wir gleichzeitig zum Beispiel einen Stuhl sehen, uns aber im selben Moment daran erinnern, dass der Stuhl vier Beine hat,
auch wenn wir sie nicht alle sehen. Mit diesen Erkenntnissen entstand dieses
Bild von Picasso, in dem der Maler zum Denker wird und der Wahrnehmung auf der
Spur ist.
Das damalige Publikum begegnete
dieser Art von Bildern mit Unverständnis, da sie den Realismus und die perspektivische Raumdarstellung gewöhnt waren. Es
war zu dieser Zeit revolutionär die Wahrnehmung des Individuums in den
Vordergrund zu stellen und es auch noch auf diese Weise darzustellen. Man
nannte Picasso einen Schmierer und Nichtskönner.
Deshalb hilft Picasso dem
Betrachter mit diesem Schlüsselbild, „Stillleben auf Rohrstuhlgeflecht“, auf
die Sprünge, indem er in das Bild verschiedene Realitätsebenen oder Realitätsstufen einfließen lässt.
Die erste Stufe ist die illusionistische Transformation, die in dem Rohrstuhlgeflecht auf dem Bild zum
Ausdruck kommt. Es ist ein Stück aus der Realität, das in dieses Bild eingefügt ist, doch es ist nicht das, wofür es gehalten wird. Das, was für ein
Rohrstuhlgeflecht gehalten wird, ist eine auf das Bild aufgeklebte
Wachstuchtischdecke (Collage), die mit dem fotografierten Muster eines Rohrstuhlgeflechts bedruckt ist. Somit tut die Wachstischdecke als wäre
sie das Geflecht und durch das illusionistische Muster der Tischdecke wird ihr
die Bedeutung des Rohrstuhlgefechts übertragen.
Über die Collage sind die
Buchstaben „JOU“ gemalt. Sie symbolisieren die zweite Realitätsstufe, die abstrakte Transformation der Realität.
Buchstaben sind weder real noch illusionistisch, sie sind keine Gegenstände,
sie ermöglichen eine wörtliche Beschreibung von Dingen. Lettern sind abstrakt, da sie
nichts darstellen, nur bezeichnen. Ihre Bedeutung wird, wie hier: die Blätter
als Zeitung, übertragen.
Die letzte Realitätsebene
in „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“ ist die Realität selbst, die hier mit der umrahmenden Kordel dargestellt
wird. Sie ist dreidimensional, tatsächlich da und stellt nur das dar,
was sie ist.
Prinzipiell will Picasso durch „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“,
dass der Realitätsgehalt einer Abbildung infrage gestellt wird und der Maler als Denker und nicht als Handwerker fungiert.
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