Montag, 16. November 2015

Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht – Pablo Picasso (1912)




Auf den ersten Blick fallen dem Betrachter des Bildes die ungewöhnliche ovale Form der Holzplatte auf, sowie die Kordel, die als Bildrahmen dient. 

Auf dem Bild sieht man ein rechteckiges Feld im unteren Bildraum, das von braunen Steifen eingegrenzt wird. Dies stellt ein Rohrstuhlgeflecht dar und wird links geschnitten von einem grauen Strich an dem mehrere senkrechte aperspektivische Linien liegen. Insgesamt sieht man einen Stuhl, dessen Sitzfläche aus einem Rohrstuhlgeflecht besteht, wie man ihn bei Stühlen in einem Café-Haus kennt. Auf diesem Stuhl scheinen Gegenstände platziert. 

Im linken oberen Bereich lassen sich Flächen erkennen, die gefalteten Papierblättern ähneln, darauf liegt Zigarette. Über den Blättern befinden sich die Buchstaben „JOU“ in fettgedruckter Druckschrift mit Serifen. „JOU“ steht hierbei für das französische „Journal“ und bedeutet Zeitung. Somit sollen die Blätter im Hintergrund die Zeitung darstellen, die auf dem Stuhl liegt. 

Im mittleren Bereich sind mehrere Gegenstände, die aus geometrischen Formen zusammen gesetzt wurden, erkennbar. Auf dem Rohrstuhlgeflecht scheint eine Art grauer Gefäß-Fuß zu liegen der einen Schatten darauf wirft. Geht man weiter nach oben identifiziert man eine Art tiefe Tellerform, die man aus einer Frontalansicht sieht. Diese beiden Gegenstände mit unterschiedlicher Perspektive sind durch weitere graue Flächen verbunden. Dadurch entsteht ein Kerzenständer. Über diesem Kerzenständer sind bräunlich-gelbe, zum Teil transparente Formen gemalt, welche um einen hellen Kreis herum verteilt sind: die auf dem Kerzenständer befindliche Kerze.

Auf der rechten Seite der Holzwand ist eine weiße Fläche mit einem großen Dreieck zu sehen, das nach links hin in einer Art Pentagramm mündet und rechts unten mit einer welligen Linie verbunden ist. Mit viel Vorstellungskraft und dem durch die Buchstaben angedeuteten Zusammenhang mit Frankreich, kann die Form als Muschelschale identifiziert werden. Anscheinend ist das Pentagramm die Verbindungsstelle der beiden Schalenhälften. Über dieser Muschel sind nochmals Formen zu sehen. Die eine sieht aus wie ein Spielzeugrad mit Speichen oder eine kleine Pizza. Um dieses Rad sind weitere Formen, eine davon ein Rechteck, das nach rechts „heraussteht“ aus diesen Flächen. Wenn man das Rad mit der Auster in Verbindung bringt erkennt man eine aufgeschnittene Zitrone und um diese Zitrone eine Art Zitronenpresse.
Somit sieht man einen Stuhl, auf dem eine Zeitung mit einer Zigarette, ein Kerzenständer mit einer  Kerze, eine Auster mit einer Zitrone in einer Zitronenpresse liegt.

Nun fragt man sich, wie man denn auf diese Interpretation des Bildes kommt.
Zum einen liegt das an dem Maler, Picasso, und zum anderen an dem Stil den er hier angewandt hat.

Pablo Picasso ist heute zwar berühmt für seinen späteren expressiven Kubismus und davor war er bekannt für seine eher klassizistisch wirkenden Malerei, auf welchen sich jedoch meist Menschen oder Tiere befinden. „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“  beinhaltet aber Gegenstände und liegt zeitlich zwischen den beiden Stilen. Was hat also Picasso dazu gebracht von einem sehr klassischen Stil zu einem so abstrakten Stil zu wechseln?

Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Fotografie immer einfacher zu bedienen und immer peerfekter, somit wurde die traditionelle Malerei mit ihrem Streben nach Realismus und Illusionismus verdrängt. Viele Maler haben sich daher neue Stilrichtungen ausgesucht, wie Magritte und Duchamp. Sie fragten sich was die Malerei über das reine Abbilden hinaus noch könne. Es entstand z.B. der Dada-ismus, der die Sinnlosigkeit der Welt zum Thema hatte und die Kunst lächerlich machen wollte. Letztendlich hat auch Picasso mit seinem Malerfreund Georges Braque einen neuen Stil gefunden, den Kubismus.

Der Kubismus versucht wissenschaftliche Erkenntnisse in die Kunst miteinzubeziehen. Durch die Forschung Sigmund Freuds erkannte man, dass jeder Mensch die Wahrheit und Wirklichkeit individuell wegen seiner Erlebnisse, Herkunft, Religion, usw. wahrnimmt.

Picasso versucht daher in diesem Bild die Wirklichkeit vereinfacht mit geometrischen Formen (siehe: Muschelschale) darzustellen. Dazu verwendet er den analytischen Kubismus, der im Gegensatz zum synthetischen Kubismus die Gegenstände in Einzelteile zerlegt und neu anordnet. Durch diesen Stil werden die Dinge klarer, da sie auf ihre einfachste Form reduziert werden, aber auch komplizierter durch die neue Anordnung.
Das tückische an diesem Bild ist, dass die Grundformen nicht nur einen neuen Platz haben, sondern  auch noch aus verschiedenen Perspektiven dargestellt werden. Gegenstände, die normalerweise sukzessiv, also hintereinander, abgebildet werden, sind in diesem Bild SIMULTAN (gleichzeitig) aus den verschiedenen Betrachtungsweisen abgebildet (z.B.: Zeitung geht hinter der Kerze weiter). Man sah sich die Gegenstände von beispielsweise vorne, oben, links und rechts an und malte einzelne Teile aus dieser Sichtweise und setzte sie neu zusammen. Bei „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“ hat Picasso versucht nur den realen Sehprozess darzustellen.
Unsere Wahrnehmung besteht nicht, wie eine Fotografie, aus nur einem Bild, sondern aus unzähligen. Das kommt zum einen von der inneren Dynamik des Menschen, der ständig in Bewegung ist, zum anderen davon, dass wir uns die Realität „zusammenzimmern“, da wir gleichzeitig zum Beispiel einen Stuhl sehen, uns aber im selben Moment daran erinnern, dass der Stuhl vier Beine hat, auch wenn wir sie nicht alle sehen. Mit diesen Erkenntnissen entstand dieses Bild von Picasso, in dem der Maler zum Denker wird und der Wahrnehmung auf der Spur ist.

Das damalige Publikum begegnete dieser Art von Bildern mit Unverständnis, da sie den Realismus und die perspektivische Raumdarstellung gewöhnt waren. Es war zu dieser Zeit revolutionär die Wahrnehmung des Individuums in den Vordergrund zu stellen und es auch noch auf diese Weise darzustellen. Man nannte Picasso einen Schmierer und Nichtskönner.

Deshalb hilft Picasso dem Betrachter mit diesem Schlüsselbild, „Stillleben auf Rohrstuhlgeflecht“, auf die Sprünge, indem er in das Bild verschiedene Realitätsebenen oder Realitätsstufen einfließen lässt. 

Die erste Stufe ist die illusionistische Transformation, die in dem Rohrstuhlgeflecht auf dem Bild zum Ausdruck kommt. Es ist ein Stück aus der Realität, das in dieses Bild eingefügt ist, doch es ist nicht das, wofür es gehalten wird. Das, was für ein Rohrstuhlgeflecht gehalten wird, ist eine auf das Bild aufgeklebte Wachstuchtischdecke (Collage), die mit dem fotografierten Muster eines Rohrstuhlgeflechts bedruckt ist. Somit tut die Wachstischdecke als wäre sie das Geflecht und durch das illusionistische Muster der Tischdecke wird ihr die Bedeutung des Rohrstuhlgefechts übertragen.

Über die Collage sind die Buchstaben „JOU“ gemalt. Sie symbolisieren die zweite Realitätsstufe, die abstrakte Transformation der Realität. Buchstaben sind weder real noch illusionistisch, sie sind keine Gegenstände, sie ermöglichen eine wörtliche Beschreibung von Dingen. Lettern sind abstrakt, da sie nichts darstellen, nur bezeichnen. Ihre Bedeutung wird, wie hier: die Blätter als Zeitung, übertragen.

Die letzte Realitätsebene in „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“ ist die Realität selbst, die hier mit der umrahmenden Kordel dargestellt wird. Sie ist dreidimensional, tatsächlich da und stellt nur das dar, was sie ist.

Prinzipiell will Picasso durch „Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht“, dass der Realitätsgehalt einer Abbildung infrage gestellt wird und der Maler als Denker und nicht als Handwerker fungiert.

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