Donnerstag, 26. Juni 2014

„Raumlineatur“



"Der taumelnde Mann" (1950), Alberto Giacometti

Interpretation:
Ein guter Anhaltspunkt zur Interpretation des Kunstwerks ist die philosophische Einstellung von Alberto Giacometti, die er auch durch seinen guten Freund, den Philosophen und Hauptvertreter des Existenzialismus Jean-Paul Sartre, erlangte.

Existenzialismus (1950/60):
Die Idee des Existenzialismus ist es, dass der Mensch in einer Welt lebt, in der es nur die Materie gibt, also keinen Gott und damit auch keine Religion. Der Konflikt von „Sein“ und „Nichts“ basiert darauf, dass der Mensch seinem Leben selbst einen Sinn geben muss und man sich im „Nichts“ (der Bedeutungslosigkeit) verliert, wenn man darauf wartet, den Sinn des Lebens von der Religion mitgeteilt zu bekommen, oder nicht selbst danach sucht. Die Folge des  passiven „Seins“ sind, laut Sartre, Depression und die Sinnlosigkeit des Daseins. Um das „Sein“ zu erreichen, muss man also aktiv nach dem Sinn des Lebens suchen.
In den 1950/60 Jahren gilt dies als heftige Behauptung, da der Aufbau von Religion und Kultur über Jahrhunderte hinweg voran gegangen ist und den Menschen das Gefühl von Halt und Belohnung gab und somit zur Unterdrückung von Unzufriedenheit führte. Gleichzeitig kam es dadurch zur Legitimisierung von Politik und Herrschaftsverhältnissen.

Alberto Giacometti überträgt die Aspekte des Existenzialismus auf seine Werke mit Hilfe des Raum-Volumen-Verhältnisses. Die Masse und das Volumen von Figuren stellen das „Sein“ dar und der frei gelassene Raum um die Figuren das „Nichts“.
Diese Darstellung von „Sein“ und „Nichts“ zeigt sich auch beim „taumelnden Mann“. Die Figur hat keinerlei Volumen, lediglich etwas Material um dünne Drähte aufgetragen. Die etwas größere Masse des Materials am Unterleib und dem Bereich des Herzens stellen die Konzentration des Lebens dar, das „Sein“. Die Beine und Arme scheinen vom „Nichts“ schon zerfressen. Lediglich die Verbindung der Füße zur massenreichen Plinthe, also dem Materie, stellt noch eine Verbindung zur Existenz her. Jedoch ist bei dieser Figur der Fall scheinbar nicht mehr aufzuhalten, es ist also schon zu spät. Es zeigt den kraftlosen Kampf gegen die Nicht-Existenz, da der Mann offenbar den Sinn des Lebens/die Orientierung verloren hat.
Die Figur ist ein Aufruf Giacomettis an die Menschen, in ihrem Leben aktiv zu werden und nicht auf Religion oder Lebensentwürfe von außen zu vertrauen, da sie sonst enden wie „Der taumelnde Mann“.


"Drei Schreitende Männer" (1947), Alberto Giacometti

Obwohl die „Drei Schreitenden Männer“ auch vom Raum verdrängt werden, stellen sie einen Gegenentwurf zum „Taumelnden Mann“ dar.
Im Gegensatz zum “Taumenden Mann“ befinden sich die drei Männer im Gleichgewicht. Alle Drei sind mit beiden Füßen fest mit dem Boden verbunden und haben somit einen stabilen Stand. Die Plinthe steht hier nicht nur für Halt, sondern auch für das Halten an der Existenz und somit auch für die Materie des Lebens. Die Figuren wurden schreitend dargestellt, das Gewicht liegt bereits auf dem vorderen Fuß, setzen also die Forderung Sartres, immer aktiv zu sein, um. Da alle Drei in verschiedene Richtungen laufen, erkennt man, dass jede der Figuren selbst nach dem eigenen Sinn des Lebens sucht, mitten im Leben steht und eine positive Auffassung der Welt hat. Auch der Betrachter der Plastik wird zum Aktiv-sein aufgefordert, da das Kunstwerk keine Ansichtsseite hat und beim Herumlaufen um die Figuren ständig neue Ansichten und Überschneidungen zum Vorschein kommen.


Beide Plastiken, „der taumelnde Mann“, sowie die „Drei Schreitenden Männer“ von Alberto Giacometti bilden einen extremen Kontrast zu Kunstwerken wie der „Würfelhocker“ oder die „Eierformen“ von Brancusi.







Vergleich und Interpretation dreier schreitender Figuren:

Bei allen drei Figuren ist die ähnliche Idee erkennbar, jedoch fallen bei genauerem Betrachten die Unterschiede bei Haltung und Schrittstellung ins Auge:

Hohepriester Ranefer:
Die ägyptische Figur strahlt eine Art Gleichmut aus. Das recht Bein ist vorangestellt, aber der Schwerpunkt liegt immer noch auf dem linken Bein. Da sich die Ägypter stark mit dem Tod auseinander gesetzt haben, soll der Stand und die Fußstellung möglichst stabil wirken, sie zeigt keine wirkliche Vorwärtsbewegung, was die Ewigkeit darstellen soll.

Kouros von Anavyssos:
Die griechische Plastik sieht selbstbewusst, stark und glücklich aus, weil sich die Griechen nicht mit dem Tod auseinander gesetzt und das Leben gefeiert haben. Das Gesicht zeigt ein Lächeln. Der Schwerpunkt des Körpers ist auf das vordere Bein verlagert. Die Haltung zeigt das Verlassen der Vergangenheit und den Schritt in die Zukunft, so wirkt die Figur vital und lebendig.

Kritios Knabe (Jüngling):
Diese griechische Plastik steht nicht gleichmäßig auf beiden Beinen, sondern hat den Kontrapost eingenommen, was bedeutet, dass sie ihren Schwerpunkt auf das Standbein verlagert hat. Im Gegensatz zu den anderen beiden Figuren, die die Arme seitlich natürlich zur Faust krümmen, fehlen dem Jüngling ab den Oberarmen beidseitig Arme und Hände. Wie der „Kouros von Anavyssos“, macht der Knabe einen Schritt in die Freiheit, da die Griechen Menschen in Freiheit sein und ihre idealisierte Natürlichkeit in Plastiken zeigen wollten.
 Das Kunstwerk konnte allerdings anfangs nicht als Skulptur verwirklicht werden, da das Material  Stein und der Torso somit das Schwerste des Jünglings gewesen wäre, was die Fußgelenke nicht ausgehalten hätten. So konnten die Griechen ihr Ziel, etwas Unvergängliches, technisch Unmögliches zu schaffen, erst erreichen, als mit Hilfe eines neuen Werkstoffes die neue Technik, der Bronzeguss, erfunden wurde. Mit der Standbein-Spielbein Stellung und der Technik des Bronzegusses die auf Grund der hohlen Form eine leichtere Bauweise ermöglichte, konnte die Figur letztendlich angefertigt werden*. 
*(Die abgebildete Statue ist eine steinerne Kopie aus der Römerzeit, die Arme und Teile der Beine sind abgebrochen und im Lauf der Jahrhunderte verloren gegangen. - Anm. Frau König)

Bei der Bildhauerei kommen viele Sachen zusammen, um einer Figur einen Ausdruck zu geben. Zuerst sehen die Figuren aus wie Abbildungen von Menschen, sie sagen durch ihre Haltung jedoch viel mehr aus, als durch ihre Optik. Somit steckt hinter der Bildhauerei mehr als das einfache Abbilden von Menschen.


„Sitzender Jüngling“  (1916/17), Wilhelm Lehmbruck
Im Vergleich zu den vorher besprochenen Plastiken fällt hier auf, dass diese Figur weder raumausfüllend, noch raumverdrängend wirkt.
(weiter in der nächsten Stunde)

Protokoll: A.H. 1KU3 2013/14

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen