"Der
taumelnde Mann" (1950), Alberto Giacometti
Interpretation:
Ein guter
Anhaltspunkt zur Interpretation des Kunstwerks ist die philosophische
Einstellung von Alberto Giacometti, die er auch durch seinen guten Freund, den Philosophen und Hauptvertreter des Existenzialismus Jean-Paul Sartre, erlangte.
Existenzialismus
(1950/60):
Die Idee des
Existenzialismus ist es, dass der Mensch in einer Welt lebt, in der es nur die
Materie gibt, also keinen Gott und damit auch keine Religion. Der Konflikt
von „Sein“ und „Nichts“ basiert darauf, dass der Mensch seinem Leben selbst einen Sinn
geben muss und man sich im „Nichts“ (der Bedeutungslosigkeit) verliert, wenn
man darauf wartet, den Sinn des Lebens von der Religion mitgeteilt zu bekommen, oder
nicht selbst danach sucht. Die Folge des passiven „Seins“ sind, laut Sartre, Depression
und die Sinnlosigkeit des Daseins. Um das „Sein“ zu erreichen, muss man also aktiv
nach dem Sinn des Lebens suchen.
In den 1950/60
Jahren gilt dies als heftige Behauptung, da der Aufbau von Religion und Kultur
über Jahrhunderte hinweg voran gegangen ist und den Menschen das Gefühl von
Halt und Belohnung gab und somit zur Unterdrückung von Unzufriedenheit führte. Gleichzeitig
kam es dadurch zur Legitimisierung von Politik und Herrschaftsverhältnissen.
Alberto
Giacometti überträgt die Aspekte des Existenzialismus auf seine Werke mit Hilfe
des Raum-Volumen-Verhältnisses. Die Masse und das Volumen von Figuren stellen das „Sein“ dar
und der frei gelassene Raum um die Figuren das „Nichts“.
Diese
Darstellung von „Sein“ und „Nichts“ zeigt sich auch beim „taumelnden Mann“. Die Figur hat keinerlei Volumen, lediglich etwas Material um dünne Drähte aufgetragen. Die etwas größere Masse des Materials am
Unterleib und dem Bereich des Herzens stellen die Konzentration des Lebens dar, das „Sein“.
Die Beine und Arme scheinen vom „Nichts“ schon zerfressen. Lediglich die Verbindung der Füße zur
massenreichen Plinthe, also dem Materie, stellt noch eine Verbindung zur
Existenz her. Jedoch ist bei dieser Figur der Fall scheinbar nicht mehr
aufzuhalten, es ist also schon zu spät. Es zeigt den kraftlosen Kampf gegen die
Nicht-Existenz, da der Mann offenbar den Sinn des Lebens/die Orientierung
verloren hat.
Die Figur ist
ein Aufruf Giacomettis an die Menschen, in ihrem Leben aktiv zu werden und
nicht auf Religion oder Lebensentwürfe von außen zu vertrauen, da sie sonst enden wie „Der taumelnde Mann“.
"Drei
Schreitende Männer" (1947), Alberto Giacometti
Obwohl die
„Drei Schreitenden Männer“ auch vom Raum verdrängt werden, stellen sie einen
Gegenentwurf zum „Taumelnden Mann“ dar.
Im Gegensatz
zum “Taumenden Mann“ befinden sich die drei Männer im Gleichgewicht. Alle Drei
sind mit beiden Füßen fest mit dem Boden verbunden und haben somit einen
stabilen Stand. Die Plinthe steht hier nicht nur für Halt, sondern auch für das
Halten an der Existenz und somit auch für die Materie des Lebens. Die Figuren
wurden schreitend dargestellt, das Gewicht liegt bereits auf dem vorderen Fuß, setzen also die Forderung Sartres, immer aktiv
zu sein, um. Da alle Drei in verschiedene Richtungen laufen, erkennt man, dass
jede der Figuren selbst nach dem eigenen Sinn des Lebens sucht, mitten im Leben
steht und eine positive Auffassung der Welt hat. Auch der Betrachter der
Plastik wird zum Aktiv-sein aufgefordert, da das Kunstwerk keine Ansichtsseite
hat und beim Herumlaufen um die Figuren ständig neue Ansichten und
Überschneidungen zum Vorschein kommen.
Beide
Plastiken, „der taumelnde Mann“, sowie die „Drei Schreitenden Männer“ von
Alberto Giacometti bilden einen extremen Kontrast zu Kunstwerken wie der
„Würfelhocker“ oder die „Eierformen“ von Brancusi.
Würfelhocker:
http://www.semataui.de/MR/images12/12-02a-Hetep01.jpg
Vergleich
und Interpretation dreier schreitender Figuren:
Bei allen
drei Figuren ist die ähnliche Idee erkennbar, jedoch fallen bei genauerem
Betrachten die Unterschiede bei Haltung und Schrittstellung ins Auge:
Hohepriester
Ranefer:
http://euler.slu.edu/~bart/egyptfoto/courtiers/ranefer_low.gif
(links im Bild)
Die
ägyptische Figur strahlt eine Art Gleichmut aus. Das recht Bein ist vorangestellt, aber der Schwerpunkt liegt immer noch auf dem linken Bein. Da sich die
Ägypter stark mit dem Tod auseinander gesetzt haben, soll der Stand und die
Fußstellung möglichst stabil wirken, sie zeigt keine wirkliche Vorwärtsbewegung, was die Ewigkeit darstellen soll.
Kouros von
Anavyssos:
Die
griechische Plastik sieht selbstbewusst, stark und glücklich aus,
weil sich die Griechen nicht mit dem Tod auseinander gesetzt und das Leben
gefeiert haben. Das Gesicht zeigt ein Lächeln. Der Schwerpunkt des Körpers ist auf das vordere Bein verlagert. Die Haltung zeigt das Verlassen der Vergangenheit und den
Schritt in die Zukunft, so wirkt die Figur vital und lebendig.
Kritios
Knabe (Jüngling):
Diese
griechische Plastik steht nicht gleichmäßig auf beiden Beinen, sondern hat den Kontrapost
eingenommen, was bedeutet, dass sie ihren Schwerpunkt auf das Standbein verlagert hat. Im
Gegensatz zu den anderen beiden Figuren, die die Arme seitlich natürlich zur
Faust krümmen, fehlen dem Jüngling ab den Oberarmen beidseitig Arme und Hände.
Wie der „Kouros von Anavyssos“, macht der Knabe einen Schritt in die Freiheit,
da die Griechen Menschen in Freiheit sein und ihre idealisierte Natürlichkeit
in Plastiken zeigen wollten.
Das Kunstwerk konnte allerdings anfangs nicht als Skulptur verwirklicht werden, da das Material Stein und
der Torso somit das Schwerste des Jünglings gewesen wäre, was die Fußgelenke
nicht ausgehalten hätten. So konnten die Griechen ihr Ziel, etwas
Unvergängliches, technisch Unmögliches zu schaffen, erst erreichen, als mit
Hilfe eines neuen Werkstoffes die neue Technik, der Bronzeguss, erfunden wurde.
Mit der Standbein-Spielbein Stellung und der Technik des Bronzegusses die auf
Grund der hohlen Form eine leichtere Bauweise ermöglichte, konnte die Figur
letztendlich angefertigt werden*.
*(Die abgebildete Statue ist eine steinerne Kopie aus der Römerzeit, die Arme und Teile der Beine sind abgebrochen und im Lauf der Jahrhunderte verloren gegangen. - Anm. Frau König)
*(Die abgebildete Statue ist eine steinerne Kopie aus der Römerzeit, die Arme und Teile der Beine sind abgebrochen und im Lauf der Jahrhunderte verloren gegangen. - Anm. Frau König)
Bei der
Bildhauerei kommen viele Sachen zusammen, um einer Figur einen Ausdruck zu
geben. Zuerst sehen die Figuren aus wie Abbildungen von Menschen, sie sagen
durch ihre Haltung jedoch viel mehr aus, als durch ihre Optik. Somit steckt
hinter der Bildhauerei mehr als das einfache Abbilden von Menschen.
„Sitzender
Jüngling“ (1916/17), Wilhelm Lehmbruck
Im Vergleich
zu den vorher besprochenen Plastiken fällt hier auf, dass diese Figur weder
raumausfüllend, noch raumverdrängend wirkt.
(weiter in
der nächsten Stunde)
Protokoll: A.H. 1KU3 2013/14
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