Die
Gotik (1140-1500)
als
Epoche der europäischen Architektur und Kunst des Mittelalters
1.
Überwältigungsarchitektur
Grundsätzlich
sprach man seit der Jahrhundertwende von der sogenannten
„Überwältigungs-architektur“,
die nicht weiter an den grundlegenden Vorstellungen der
Zweckarchitektur (=> Kirchen als Schutz vor Feinden oder als
nützliche und besonders großräumige Versammlungs-räume)
festhielt, sondern diese vielmehr weiterentwickelte, indem sie auch
Assoziationen und Beweggründe berücksichtigte und miteinband.
Zu
dieser Art von Architektur zählen Bauwerke, die durch ihre
außerordentlich spezielle Ge-staltung (Größe, Prunkentfaltung
etc.) als Blickfang gelten und damit den Betrachter gänzlich
überwältigen sollen. Dazu gehörten früher vor allem Kirchen,
Paläste und auch repräsentative bürgerliche Häuser in
Großstädten. Aber auch in der heutigen Zeit kann man die
Zielsetzungen dieser Architektur noch gut nachvollziehen, wenn man
sich beispielsweise das Opernhaus in Sydney, das Museum Bilbao, die
riesigen Bürotürme oder auch das Empire State Building vor Augen
führt, das durch die vielen Stockwerke und das große Foyer
beeindruckend wirken und gleichzeitig die Macht und Bedeutung der
einflussreichen Konzerne widerspiegeln soll.
2.
Gotische Kathedrale
Gotische
Kathedralen dienten in erster Linie der Verbildlichung der
christlichen Ideenwelt und gelten heute immer noch als herausragende
Kunstschöpfungen. Zudem unterscheiden sie sich äußerlich komplett
von romanischen Gotteshäusern und bedienen sich in einem sehr großen
Umfang der Allegorie und der Symbolik.
Gerade
in dieser Kunstepoche war es besonders wichtig, das innere
Erscheinungsbild von den äußerlichen Merkmalen zu trennen, denn es
galt folgender Grundsatz:
Man
kann niemals ein Gebäude gleichermaßen von innen und außen
begutachten, folglich gibt es immer zwei verschiedene Ansichten eines
Gebäudes!
INNENANSICHT:
Extrem
ausgeschmückt und überladen (Reizüberflutung, teilweise
Desorientierung):
- Zahlreiche
bunte, verzierte und breite Fenster, die das eindringende Licht
reflektierten
(=>
bunte Lichtflecken auf dem Boden und Lichtspiegelungen auf allen hoch
polierten Flächen)
- Diskrepanz
der Wände (Lichtdurchlässigkeit -> Wolke aus buntem Licht) und
dünne, fragile Säulen zwischen den breiten Fenstern
- Eine
mit Sternenmustern und Ranken bemalte Decke
- Zwischen
den Arkaden ausgehängte Teppiche
- Aufwendige
geschmückte und mit Juwelen und Gold besetzte Reliquienkästchen
=> Der Betrachter ist somit fester Bestandteil dieser prall gefüllten
Schatztruhe und wird in den Mittelpunkt gestellt; der Innenbau der
Kathedrale bezieht sich folglich auf den Nutzer mit seinen
Bedürfnissen
AUßENANSICHT:
Massiver
Steinklotz, aus dem kleinere und auch größere Türmchen
herauswachsen
(erinnert
an ein „vielfüßiges, gepanzertes Insekt“):
- Gleichartige
und durchaus simple Strukturen sowie Formwiederholungen, die oftmals
durch Malereien verziert oder durch Türmchen überspielt werden.
- Häufig
drei Eingangspforten
- Der
verwendete Naturstein erinnert an ein Gebirge mit scharfkantigen
Umrissen
- Zahlreiche
Stützen (=> Stabilität, Halt des gewaltigen Bauwerkes!)
=> Der Außenbau muss Gegebenheiten (Stadtplanung, Farbgebung, Höhe der
Häuser etc.) berücksichtigen, sich mit der direkten Umgebung
auseinandersetzen und sich gegebenen-falls an sie anpassen.
2.1
Genaueres zum typischen Aufbau und Baustil
- Kreuzförmiger
Grundriss (=>
Symbolik!)
- Längsschiff/
Langhaus
=
Langgestreckter Bauteil einer Kirche zwischen Fassade und
Querhaus,
der für die Gemeinde gedacht war und um den oft
Radialkapellen
herumgebaut wurden.
-Seitenschiffe
=
Parallel zur Längsachse verlaufende Raumteile einer Kirche, die
rechts
und links vom Mittelschiff durch Säulen oder Pfeilern getrennt
sind.
- Chor
=
Ursprünglich war damit ein höherliegender Raumteil gemeint, in
dem
die Geistlichen ihren Chorgesang in der Kirche anstimmen konnten.
Seit dem 8./9. Jahrhundert wird die gesamte Verlängerung des
Mittelschiffs als Chor bezeichnet.
- Apsis
=
Meist halbkreisförmiger Abschluss eines rechteckigen Langhauses; ein
wichtiger und ausgeschmückter Teil der Kirche, der den für die
Gemeinde nicht sichtbaren Altar aufbewahrte und nur von Geistlichen
betreten werden durfte.
- Vierung
=
Quadratischer oder rechteckiger Raum, der durch die Durchdringung von
Langhaus und Querhaus im Kirchenbau entsteht.
- Arkaden
=
In einer Reihe auf Pfeilern oder Säulen aufliegende Rundbögen.
Arkaden können in einem oder mehreren Etagen übereinander
angeordnet sein.
- Fensterform:
Spitzbögen (charakteristisches Erkennungsmerkmal für die Gotik)
=
Rund oder spitz gewölbte Konstruktion in einer Maueröffnung. Der
Bogen bietet die einzige Möglichkeit, um im Steinbau größere
Spannweiten zu überbrücken, da er die Last abfängt und auf Stützen
verteilt, und wird aus zwei Kreisbögen konstruiert, die sich im
Scheitel überschneiden und eine Spitze formen.
2.2
Analyse der Raumwirkung
Diese
Analyse ist für alle Gebäudearten verwendbar und lässt sich in
vier Aspekte unterteilen:
1.
Funktion
2.
Konstruktion
3.
anschauliche Wirkung
4.
ideelle Bedeutung (Interpretation)
2.2.1
Funktion der Kathedrale
Kathedralen
sind große Versammlungsräume, die in erster Linie dem Abhalten von
Gottes-diensten dienen und aus diesem Grund auch ausreichend Platz
für große Menschenmenge bieten müssen. Gleichermaßen sollen diese
prunkvollen Gebäude mithilfe ihrer Größe auch einschüchtern und
auf diesem Wege sowohl die uneingeschränkte Macht Gottes als auch
gleichzeitig die Nichtigkeit des Menschen zur Geltung bringen, wobei
auch stets betont wird, dass derartige gewaltige Bauwerke allein zu
Ehren Gottes errichtet wurden.
Allerdings
sollte in manchen Fällen auch die Eitelkeit zum Vorschein kommen,
die dazu diente, die weltliche Macht zu demonstrieren (=>;
repräsentative Funktion der französischen Bischofs-kirche).
Königskirchen
trugen zur Verbindung der kirchlichen und weltlichen Macht bei.
Entstehungsgeschichte:
Viele
Menschen wollten den Jakobsweg gehen, weil sie sich am Ende des
Wallfahrtsweges in Santiago de Compostela die Vergebung ihrer Sünden
oder die Befreiung von ihren Krankheiten erhofften. Da sich demnach
die Pilgerströme aus ganz Europa immer mehr verstärkten und sich der
Andrang vergrößerte, setzte eine völkerwanderungsähnliche Bewegung nach
Spanien ein, was dann wiederum gleichzeitig zur Folge hatte, dass die
Kirchen entlang des Weges die Menschenströme kanalisieren musste, um jedem Pilger die
Gelegenheit zur Andacht und zum Gebet zu geben.
=> „Kathedralen als Massenabfertigung für Pilger“
Da
unter den Pilgern auch Handwerker und Baumeister waren, wurden die
Bautechnik und das Baukonzept schließlich übernommen und in ganz
Europa verbreitet.
=> Ausweitung der Gotik
2.2.2
Konstruktion
Grundlegender
Aufbau der Wände:
ARKADENZONE
– TRIFORIENZONE - FENSTERZONE
Der
Glieder-
und Skelettbau gilt
als form- und funktionsgebendes „Knochengerüst“ und ist der
Träger der Lasten des ganzen Systems. Essentiell wichtig sind:
- Strebewerk:
Skelettbauweise,
die besonders für den gotischen Kirchenbau typisch ist. Das
Strebewerk dient der Verteilung der Schubkräfte von Dach und
Gewölbe.
- Strebepfeiler:
Die
Strebepfeiler dienen zur Verstärkung hoher Mauern und zur Ableitung
von Schubkräften. Sie steigen entweder an den Außenmauern empor
oder sie überragen die Seitenschiffe und sind über deren Dächer
hinweg durch Strebebögen verbunden.
- Strebebögen:
Bögen
zur Ableitung von Schubkräften
Der
innere Halt und die Stabilität des Gebäudes wird durch folgende
Bauelemente gewähr-leistet:
- Bündelpfeiler:
Gruppe
von kleinen und großen Dreiviertelsäulen (Dienste),
die um einen Pfeilerkern angeordnet sind.
- Rippen:
Konstruktionsteil
eines gotischen Gewölbes, bzw. Skelett, über dem die nichttragenden
Füllungen aufgemauert sind.
Die
gebogene und meist aus keilförmigen Steinen zusammengesetzte Decke
wird als Gewölbe bezeichnet.
2.2.3
Anschauliche Wirkung
Aufgrund
der unvorstellbaren Höhe sollte sich der Mensch bedeutungslos und
klein vorkom-men und gleichermaßen erkennen, dass eine enge
Verbindung zum Himmelsreich besteht. Zudem war es auch erstaunlich,
wie diese Konstruktion überhaupt halten kann, da die Wände aufgrund
der zahlreichen Glasfenster förmlich einem „Spitzendeckchen“
glichen und daher nicht besonders stabil und auf das Tragen von
Lasten ausgelegt waren. Man hatte auch den Eindruck, dass die schwere
Decke schwebt, und jedem Besucher wurde es durch das Durchwandern
dieser Pracht ermöglicht, die Herrlichkeit Gottes zu erleben. Da
auch die Raumgrenzen völlig aufgelöst wurden (-> Diaphanie),
herrschte in dem Raum eine physische Unbestimmtheit vor, die zur
Verunsicherung des Menschen führte. Des Weiteren sollte der
Lichteinfall durch die bunten Glasfenster den Betrachter an das
mystische Himmelslicht erinnern. Das Deckengewölbe mit seinen
gekreuzten Rippen glich einem Baldachin (= dach-artiger Aufbau über
einem Kultobjekt oder einer Statue).
2.2.4
ideelle Bedeutung
- Lichtmetaphorik:
Licht
als Metaher für Überirdisches =>; Erleuchtungserkenntnis
- Verwendung
von Gold =>
wertvolles Metall, Glanz
- Abbild
des heiligen
Jerusalems =>
zweites Paradies
Protokoll: C.H.